Hintergründe zu Depression (Interview mit Hans Rebhan)

„Ist es für Betroffene nicht sehr schwierig, die positive Absicht bei einer Depression zu erkennen?“

Wenn Leute mit einer Depression zu mir kommen, frage ich sie: „Wie ging es Ihnen die letzten Jahre? Ist alles gut gelaufen?“ Immer fühlen sich die Menschen bereits seit längerem sehr belastet. Dann sage ich: „Ihr Körper ist jetzt über die Depression dabei, das alles aufzuarbeiten und die Gefühle, die sie unterdrückt haben, zu Ende zu fühlen“. Betroffene müssen wissen, dass eine Depression keine Krankheit ist. Die Gefühle bei einer Depression werden vom Körper erzeugt, um das, was mich belastet – und das sind meist mehrere Erlebnisse -, aufzuarbeiten. Es ist ein sehr wirksamer Selbstheilungsweg des Körpers, mit dem er anfängt, alles, aufzuarbeiten, was zu dieser Depression geführt hat. Eine Depression ist eigentlich das letzte Mittel des Körpers, um schwerwiegende Erlebnisse aufzuarbeiten, bevor er körperliche Krankheiten entstehen lässt. Dann erkläre ich, wie eine Depression entsteht und wie sie meiner Erfahrung nach verläuft.

„Zur Entstehung einer Depression gibt es ja unter Fachleuten vielfältige Theorien, z.B. Seligmans ‚Erlernte Hilflosigkeit‘. Daneben gibt es noch die biochemischen Modelle, die von einem Mangel an Lithium und Serotonin ausgehen. Welche Erklärung hast Du, wie eine Depression entsteht?“

Eine Depression verläuft – ohne Einnahme von Medikamenten – meiner Erfahrung nach immer gleich: 

  1. Es fällt mir immer wieder auf, dass die Betroffenen 1-3 Jahre vor dem Ausbruch einer Depression wiederholt belastende Situationen erlebt haben, mit denen sie schlecht umgehen konnten: z.B. sie fühlten sich nicht anerkannt, in ihrem Wert in Frage gestellt oder sogar angegriffen, mussten “funktionieren” , ihre Gefühle kontrollieren und ihre Bedürfnisse zurückstellen. Notwendige Entscheidungen wurden nicht getroffen. Häufig sind dabei private und berufliche Belastungen gekoppelt. Oder es geschahen mehrere schwerwiegende Ereignisse hintereinander, die die Klienten nicht beeinflussen konnten. Diese wiederholten Situationen und die damit verbundenen unangenehmen Gefühle – häufig Ängste –  summierten sich.
  2. Dann kommt eine Phase, in der sie merken, dass etwas nicht mehr stimmt. Sie spüren, dass es ihnen schlecht geht, machen aber trotzdem noch weiter.
  3. In der nächsten Phase ist die Art, wie sie weitermachen, eigentlich nicht mehr echt sondern nur noch gespielt. Ich nenne sie die Rollenspielphase. Die Betroffenen versuchen, irgendwie mit der Situation zurechtzukommen und verstärken das alte Verhalten mit aller Macht. Die Klienten versuchen, mit den Mitteln, die sie zur Lösung ihrer Probleme bisher kennen, die Kontrolle über die Situation zu behalten. Sie nutzen Vermeidungsstrategien, d.h. sie weichen ihren Bedürfnissen aus, indem sie z.B. sehr viel arbeiten, sich viel um andere kümmern, sich einen Liebhaber suchen, oder sie kämpfen (z.B. sie beschimpfen sich und andere, provozieren Streitigkeiten oder sogar einen Auszug aus der gemeinsamen Wohnung). Diese gewohnten Lösungsversuche, ein Mehr des Gleichen, verstärken lediglich das Grundproblem und die Hilflosigkeit im Umgang damit.
  4. Dann kommt erst die eigentliche DepressionDie Betroffenen wachen früh auf und fühlen sich kraftlos, traurig, ängstlich. Sie wissen nicht, wie sie den Tag überstehen sollen, können sich auf nichts mehr freuen und sehen die Zukunft nur noch schwarz. Sie wissen nicht, was mit ihnen los ist, denken sie werden langsam verrückt, weil sie diese Antriebslosigkeit und den Schwermut an sich noch nie erlebt haben. Jetzt bräuchten sie kurzfristig einen Psychotherapeuten, der ihnen erklärt, dass die Depression eine Maßnahme des Körpers ist, um sich selbst zu heilen: Wenn wir die Gefühle wahrnehmen, fängt er an, alles aufzuarbeiten, was zu dieser Depression geführt hat. 
  5. Nach 1-2 Monaten, in denen sich die Betroffenen richtig schlecht fühlen, verändert sich das Empfinden. Der Heilungsprozess beginnt: Die Depression fängt in der Regel an, sich abends aufzulösen. Sie fühlen sich abends bereits etwas wohler und irgendwann ist die Depression abends ganz weg. Dadurch können sie sich abends von der Depression des Tages erholen. Ihr Körper sorgt so dafür, dass sie nie überfordert werden.
  6. In den nächsten Monaten wird es dann schrittweise leichter: früh bleibt die Depression zwar so schlimm wie am Anfang, aber sie wird allmählich erst am Nachmittag, dann am Mittag und schließlich schon am Morgen nicht mehr spürbar. Die Phasen, in denen sich die Klienten kraftlos fühlen, werden immer kürzer. Spätestens nach einem Jahr wachen sie früh auf, fühlen sich wohl und denken „Es ist vorbei!“. Die Depression ist aber noch nicht vorbei. Sie klingt in Wellen aus. Am nächsten Tag ist das schlechte Gefühl wieder da. Aber die Tage, an denen sie mit einem guten Gefühl aufwachen, werden immer häufiger.
  7. Irgendwann kommt überhaupt kein schlechtes Gefühl mehr. Sie sind noch eine Zeitlang unsicher und fürchten, dass sie wieder in ihre Depression zurückfallen, wenn eine Belastungssituation kommt. Sie kommt aber nicht mehr.
  8. Wenn die Leute die Phase der Unsicherheit hinter sich gebracht haben, machen sie alle die Erfahrung, dass sie mit den Situationen, die früher die Depression ausgelöst haben, jetzt völlig anders umgehen, wesentlich souveräner und kraftvoller. Welche Situationen genau zur Depression geführt haben, erkennen die Betroffenen meist erst jetzt in der Rückschau. Auch wenn eine Depression zweifellos eine der schlimmsten Phasen ist, die man im Leben haben kann, sind sie jetzt froh, eine Depression gehabt zu haben. Weil sie merken, wie sich ihr Leben dadurch verändert hat. Das ist der Sinn einer Depression.

„Wie lange dauert eine Depression, wenn sie mit dem ZIFF-Prozess begleitet wird?“

Wenn ich Klienten in einer Depression begleite – das bedeutet etwa alle vier Wochen einen Termin – habe ich es bisher niemals erlebt, dass sie – ohne Medikamente – länger als 9-12 Monate gedauert hat.  Manchmal ist sie bereits nach 6 Monaten vorbei. Der erste Monat ist schlimm. Dann lässt sie aber zunehmend nach.

Ich leite Klienten dazu an, zwischen den Terminen bei mir für sich selbst  den ziff-Prozess anzuwenden. Morgens, wenn es ihnen am schlechtesten geht – es ist übrigens bei jeder Depression so, dass es den Betroffenen früh sehr schwer fällt aufstehen -, bringe ich ihnen mit dem ZIFF-Prozess bei, sich auf den Rücken zu legen, in das Gefühl hineinzugehen und es zu fühlen. Das dauert ungefähr 20 Minuten, dann lässt das Gefühl langsam nach. Danach kann man den restlichen Tag besser überstehen und kommt gut mit seinen alltäglichen Erledigungen zurecht.

Wenn Menschen ihre Depression auf natürliche Art zu Ende bringen, habe ich es nie erlebt, dass sie in ihrem Leben ein zweites Mal eine Depression bekommen haben. Sie sind wieder gesund, besser „drauf“ als vorher und besser in der Lage, mit belastenden Situationen umzugehen. Das ist der eigentliche Sinn einer Depression. Anders ist es dagegen nach meiner Erfahrung, wenn Medikamente genommen werden.

„Aber haben Menschen in Arbeitsverhältnissen heute noch so viel Zeit, sich den Symptomen einer Depression auszusetzen und abzuwarten?“

Entgegengesetzt zur gängigen Verschreibungspraxis empfehle ich Mitarbeitern in der Regel, sich nicht krankschreiben zu lassen, sondern weiter zur Arbeit zu gehen. Sie sollen aber ihren Vorgesetzten darüber informieren, dass sie derzeit depressive Symptome haben, nicht so belastbar sind wie sonst und ihn bitten, für eine begrenzte Zeit Verantwortung abgeben zu können. Bisher hat das noch kein Chef abgelehnt und zum Beispiel gesagt „Tut mir leid, wenn Sie die Arbeit nicht erfüllen können, dann suchen Sie sich einen anderen Arbeitsplatz“. Ein offenes Gespräch weckt Verständnis. Meistens sind ja Mitarbeiter in verantwortungsvollen Funktionen betroffen. Die lässt man dann wirklich eine Zeitlang in Ruhe bis sie wieder sie von alleine kommen.

„Üblicherweise wird bei Depressionen ein Medikament verschrieben.“

Nach meiner Einschätzung gehen 90% aller Leute zum Arzt und lassen sich Antidepressiva verschreiben, da sie sich sonst nicht in der Lage fühlen, ihren Alltag zu bewältigen. Solange man das Medikament nimmt, kann aber die Depression nicht zu Ende gehen. Den Patienten geht es zwar nach einigen Monaten besser, so dass sie das Medikament wieder absetzen können. Kommt dann aber die nächste Belastung, beginnt die Depression wieder. So geht es immer weiter. Eine Depression als Heilungsprozess, den der Körper selbst wählt, dauert maximal ein Jahr. Viele Ärzte wollen den Behandlungserfolg aber mit der Einnahme von Medikamenten beschleunigen.

„Das heißt, durch das Medikament geht das Gefühl gar nicht weg, man nimmt es nur nicht wahr?“

Genau, man spürt es nicht mehr. Bei einer Depression fehlt eine Substanz im Körper. Diese wird künstlich über das Medikament nachgeschoben. Dadurch wird der natürliche Spiegel dieses Stoffes in den Zellen wieder hergestellt und die Gefühle chemisch unterdrückt. Die Symptome der Depression verschwinden, aber die Leute leben wie unter einer Käseglocke: Das Gefühl kommt, aber nach fünf Sekunden ist es wieder weg. Aufarbeitung bzw. Lernen kann so nicht stattfinden. Kommt der Klient wieder in eine ähnliche Situation, wird er automatisch die gleichen belastenden Gefühle bekommen. Und die zunehmende Ansammlung nicht verarbeiteter Erlebnisse bzw. der damit verbundenen Gefühle macht es immer schlimmer.

„Diese Vorgehensweise steht völlig im Widerspruch zu dem, was die Betroffenen aus dem Umfeld erfahren, nämlich: „Geh zum Arzt und lasse Dir etwas verschreiben. Du kannst doch jetzt nicht ein Jahr lang damit herum machen.“

Ich arbeite derzeit mit einem 75-jährigen Mann, der seit 33 Jahren an Depressionen leidet. Auf meine Frage, ob er Medikamente nehmen würde, antwortete er: „Ja, die Ärzte haben gesagt, ohne Medikamente könnte ich das gar nicht durchstehen.“ Ich habe noch nie einen Menschen therapiert, der schon so lange eine Depression hat. Er war wohl einer der ersten, der die Medikamente damals bekommen hat. Manche Ärzte sagen sogar „Ich verschreibe Ihnen Antidepressiva, die heilen Ihre Depression“ – was natürlich Unsinn ist. Antidepressiva heilen eine Depression nicht, sie unterdrücken sie. Antidepressiva haben die Eigenschaft Gefühle zu dämpfen und damit deren Aufarbeitung wirksam zu verhindern. Sie „konservieren“ die Gefühle. Diese sind aber bei einer Depression dazu da,  um das, was mich belastet– und das sind meist eine Reihe von Erlebnissen -, aufzuarbeiten. Wenn ich meine Gefühle mit Medikamenten chemisch unterdrücke, so dass sie nicht mehr fühlbar sind, führt das zwar dazu, dass meine Depression verschwindet, aber sie wird immer wieder auftauchen, weil die Gefühle nicht aufgearbeitet wurden. Die Menschen leben wie unter einer Käseglocke. Manche Klienten leiden jahrzehntelang an einer Depression. Sie kann nicht zu Ende gehen, solange das Medikament eingenommen wird. Wer eine Depression auf natürliche Weise verarbeitet hat, bekommt nach  in seinem Leben keine weitere mehr.

„Aber damit stößt du auf den Widerspruch vieler Ärzte…“

Solange Klienten Medikamente nehmen, kann ich mit ihnen nicht arbeiten. Ich brauche ihre Gefühle. Sie müssen sie fühlen, annehmen und zu Ende fühlen. Ich schicke Klienten, die einen neuen Weg gehen wollen, daher immer zu ihrem Arzt, damit sie ihre Medikamente langsam absetzen – keinesfalls von heute auf morgen. Spätestens nach 4 Wochen ist die Wirkung der Medikamente vorbei. Ich habe aber schon erlebt, dass eine Ärztin ihre Patientin angeschrien hat, sie würde ab sofort jede weitere Behandlung ablehnen. Das Absetzen der Medikamente sei fahrlässig… Ich informiere daher Klienten über Ärzte, die ihre Patienten beim Ausschleichen der Medikamente unterstützen. Eine Klientin, die seit 14 Jahren Medikamente genommen hatte, fand bei ihrem Arzt ebenfalls keine Unterstützung. Sie ging zu ihrem Chef, bat um 4 Wochen Urlaub und nahm vom ersten Urlaubstag an keine Medikamente mehr. Das empfehle ich auf keinen Fall. Ich bereitete sie darauf vor, dass wiederholt noch schwere Zeiten kommen würden, und wie sie diese auffangen könnte. Als sie das nächste Mal wieder kam, ging es ihr richtig gut. Und irgendwann war es vorbei.

„Aber sind Patienten in unserem Gesundheitssystem nicht gewohnt, dass ihnen durch einen Arzt, der ihnen sagt, was sie tun sollen, die Entscheidung abgenommen wird? Übernimmst nicht Du anstelle des Arztes die Verantwortung, indem Du ihnen sagst, was sie tun sollen?“

Ich übernehme nie die Verantwortung für Klienten. Ich finde auch, dass es nicht gut ist, wenn ein Arzt für seinen Patienten Verantwortung übernimmt. Ich übernehme die Verantwortung für meine Arbeit. Das, was ich sage, davon bin ich überzeugt. Klienten müssen selbst entscheiden, ob sie diesen Weg mitgehen wollen. Meiner Erfahrung nach übernehmen die meisten Klienten aber die Verantwortung für ihre Entscheidung, wenn sie verstanden haben, worum es geht.

„Wie gehst Du denn mit Klienten um, die gerne ein Heilungsversprechen haben möchten? Die sagen: „Können Sie mir garantieren, dass mein Symptom wirklich weggeht, wenn ich es so mache, wie Sie es sagen?“

Das hat noch niemand gefragt oder von mir eingefordert. Ich gebe keine Garantien. Ich würde sagen: „Ich kann Ihnen nur sagen, was ich darüber weiß. Es ist Ihre Entscheidung, ob Sie nach diesem Wissen handeln oder nach dem Wissen, das z.B. Ihr behandelnder Arzt hat.“

„In der kognitiven Verhaltenstherapie würde man völlig anders vorgehen: Bei Depression erarbeitet man neue Verhaltensmuster für bestehende belastende Situationen und mit Rollenspielen eingeübt . Darüber hinaus versucht man  mit kognitiver Umstrukturierung Denkmuster zu ändern.“

Da die Menschen sowieso dauernd erfolglos ihren Verstand benutzen, um Gefühle unter Kontrolle oder weg zu bekommen, würde ich niemals mit dem Verstand arbeiten oder Denk- und Verhaltensmuster umlernen lassen. Werden die Gefühle nicht aufgearbeitet, tauchen sie in einer ähnlichen Situation automatisch wieder auf – auch wenn jemand  ein anderes Verhalten zeigt, weil er es in einer Verhaltenstherapie so gelernt hat. Er wird sich dabei weiterhin schlecht fühlen.

„Beim ziff-Prozess unterscheiden sich die Behandlungskonzepte bei Ängsten und Depressionen nicht?“

Die Aufarbeitung einer akuten, reinen Angst mit dem ziff-Prozess dauert zwischen 10 und 20 Minuten. Wenn es um eine Angst geht, die jemand schon länger hat, und die immer wieder kommt, ist es nicht mit einem ziff-Prozess getan. Da muss jemand öfter hineingehen, je nachdem, wie lange die Angst schon besteht. Depression ist mehr als eine normale Angst. Bei einer Depression fasst der Körper die aufgestauten Gefühle der letzten Jahre zusammen. Somit dauert die Aufarbeitung entsprechend länger – bis zu 12 Monaten.

„Der ziff-Prozess erscheint entgegengesetzt zu allen gängigen Therapieansätzen…“

Stimmt. Mit psychischen Erkrankungen gehe ich schon seit Jahren anders um, als es in den klassischen Psychotherapien beschrieben wird. Meine Entwicklung des ziff-Prozesses hat diese andere Herangehensweise bestätigt und ist nochmals effektiver als meine Arbeit davor. Die Wahrnehmung und Veränderung von psychischen Zuständen, wie ich sie aus der Psychotherapie kenne, erscheint mir kompliziert. Was jedes Säugetier auf ganz natürliche Art ohne Mithilfe des Verstandes zustande bringt, kann auch ein Mensch in allen Situationen, die mit Gefühlen zu tun haben, hervorragend anwenden. Ich glaube, dass Verhaltenstherapie und andere Therapieansätze gute Modelle sind, um den Menschen und seine Probleme zu verstehen. Aber ich glaube nicht, dass sie so wirksam sind wie der ziff-Prozess.